Pessovereinigung Deutschland & Schweiz e.V.

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Dämonen in der menschlichen Seele - Markus Aronica, 2007

Gedanken zu den Figuren der sieben Hauptsünden
(überarbeitet und aktualisiert)

Im Jahr 2007 habe ich einen Artikel über die Wasserspeier des Freiburger Münsters veröffentlicht, der die mittelalterlichen Figuren vor dem Hintergrund mönchischer Lebenshilfe sowie heutiger Persönlichkeitsentwicklung und Psychotherapie deutet. Meine damals inspirierende Gesprächspartnerin Almuth Roth-Bilz hat mich nun gebeten, diesen Artikel den PBSP-Vereinigungen zur Verfügung zu stellen – als Ergänzung zu ihrem Beitrag über Entity. Leider darf ich wegen fehlender Bildrechte nur den Text wiedergeben – für eine Betrachtung der Bilder empfehle ich den Kauf des Büchleins.

Der Artikel erschien in: Streben himmelwärts.
Der Westturm des Freiburger Münsters Unserer Lieben Frau, hg. v. M. Aronica, Freiburg: Promo 2007, 36–47

vgl. a. Markus Aronica: Lebenszeichen.
Das Freiburger Münster & seine Spiritualität früher und heute, Freiburg: Promo 2016, 22–29 


Die einführenden Informationen zu PBSP sind hier, anders als im Buch, den Beobachtungen und Gedanken zu den Wasserspeiern vorangestellt.

  • Albert Pesso (1929–2016) hat vom Tanz herkommend seit 1961 eine Form der Körperpsychotherapie entwickelt, deren Grundidee gelungene zwischenmenschliche Nähe und Begegnung (Interaktion) ist. Grundbedürfnisse eines Kindes werden gewöhnlich von seinen Eltern befriedigt, indem sie interaktiv beantwortet werden. Das nicht beantwortete Lächeln eines Säuglings beispielsweise erstirbt sonst. Verschiedene Seelenkräfte brauchen verschiedene interaktive Antworten. Neben Platz, Nahrung, Unterstützung und Schutz ist das körperliche und symbolische Erfahren von Grenzen ein menschliches Grundbedürfnis. Erlebt ein Kind keine Grenzen, so werden die in der Seele wohnenden ungeformten Kräfte für übermächtig, allmächtig gehalten. Es entwickeln sich Allmachtsphantasien, die unvermittelt in panische Ängste umschlagen können und dann als Bedrohungen und Dämonen erlebt werden.
    Erfahren die menschlichen Kräfte jedoch – ohne unterdrückt zu werden – sicheren Halt und eine unüberschreitbare Grenze, können sie angstfrei ausgelebt und als natürliche Energie erfahren werden. Dann kann man ihre Bedeutung einschätzen und sie kontrollieren. Man lernt sich selbst zu begrenzen, insbesondere wenn es um Achtung und Respekt anderen gegenüber geht. Menschliche Seelenkräfte wollen also gar nicht teuflisch toben, sondern von anderen Menschen und vom Leben gehalten, in Dienst genommen werden.

    Vgl. Albert Pesso: Werden, wer wir wirklich sind, in: Die Bühnen des Bewusstseins. PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie, hg. v. A. Pesso u. Lowijs Perquin, München: CIP-Medien 2008, 43–60; Barbara Fischer-Bartelmann und Almuth Roth-Bilz: Holes in Roles – Löcher im Rollengefüge der Familie, in: https://www.almuthroth.de/texte.

Das Freiburger Münster beherbergt vielerlei Bilder und Skulpturen von Menschen und allerlei Geschöpfen. Neben Respekt einflößenden, aufrecht stehenden Vorbildern aus der Bibel und Heiligenlegenden bevölkern waagrecht angebrachte Tiere, Fabelwesen, Monster und seltsame Gestalten als Wasserspeier die Außenseite des Gotteshauses.
Heike Mittmann: Die Wasserspeier am Freiburger Münster, mit Fotografien von Jean Jeras, hg. v. Freiburger Münsterbauverein. Lindenberg (2. Auflage) 2002.
Wegen ihres schrillen Aussehens und wegen ihrer teils lustigen Körperformen und Grimassen werden sie von Kindern und Erwachsenen oft mit schaurigem Vergnügen betrachtet.
Die Entwurfgestalter und Handwerker des Mittelalters haben in diesen Figuren ihre kreative Phantasie von tierischer Triebhaftigkeit und von schrägen Charakteren ausgedrückt. Wie ein großer Katalog skurriler Kreaturen zeigt das Freiburger Münster 84 Wasserspeier, dazu 26 Wasserspeierminiaturen in der Hauptportalhalle unter dem Turm. Ihre durchaus dämonische Bosheit gipfelt hoch oben am Turm in den so genannten sieben Hauptsünden: Völlerei, Geilheit, Geiz, Zorn und Hochmut – Trägheit und Neid sind allerdings verloren und durch andere Figuren ersetzt. Auch die anderen Originalskulpturen sind heute im Augustinermuseum, am Turm sind Kopien angebracht.
Während die Wasserspeier bei Regen und Schnee zur Entwässerung des Münsters beitragen, ist am Turm in 60 Metern Höhe kein entsprechender Dienst nötig. So sind die Hauptsünden keine echten Wasserspeier, sehen aber genau so aus und repräsentieren das Wesen aller Dämonen am Münster.
Wie die positiven Figuren mit der Höhe ihres Standorts an Bedeutung und Kraft gewinnen, so auch die negativen Figuren. Die Hauptsünden sind die gefährlichsten Dämonen des Münsters. Damit man sich nicht vor ihnen fürchten muss, stehen über ihnen wachsame Posaunenengel des Weltgerichts.


Dämonen als fehlgeleitete Seelenkräfte

Häufig hört oder liest man die Erklärung, die dämonischen Skulpturen an gotischen Kirchen hätten die Aufgabe, mit ihren Fratzen böse Geister abzuwehren (apotropäische Funktion). Diese Deutung ist wahrscheinlich vom Denken des 19. Jahrhundert geprägt. Sie geht davon aus, dass sich so gut wie alle mittelalterlichen Menschen vor wirklich existierenden Geistwesen und Gespenstern fürchteten.
Zumindest für das 13. und 14. Jahrhundert ist das heute fraglich. Ein derart realistischer Dämonenglaube dürfte auch damals als unvernünftiger und nicht besonders beachtenswerter Aberglaube angesehen worden sein. Erst in späteren Jahrhunderten bekämpfte die Kirche mit teils brutalen Mitteln Teufelsanbetung und Magie, wo immer man sie vermutete.
Die Überlegung, was mit den „Dämonen“ und speziell mit den „Hauptsünden“ dann gemeint und am Münster dargestellt sein könnte, führt zu einer alten christlichen Tradition, aus deren Blickwinkel die Figuren am Münster hier betrachtet werden sollen. Sie beinhaltet zunächst, dass es letztlich gleichgültig ist, ob man Dämonen als bösartige Wesen von außen oder als Bilder und Symbole für das Böse im Innern des Menschen ansieht. So oder so haben sie einen sehr negativen Einfluss auf
das menschliche Leben. Allein dies macht die Beschäftigung mit ihnen notwendig und sinnvoll.
Insbesondere die sieben Hauptsünden sind bedrohliche Wirkmächte für die Seele. Sie stehen für dunkle Einflüsterungen, Gefühle und Gedanken, die, wenn ein Mensch ganz von ihnen besessen ist, das eigene Leben oder das anderer vernichten können. Sie verleiten zu großen Schuldvergehen bis hin zu Kapitalverbrechen. Die ernste Bedrohung, die von ihnen ausgehen kann, führte zu dem Namen „Sünden zum Tod“, „Todsünden“. Heute werden sie „Hauptsünden“ genannt, um ihre Verführungsmacht von tatsächlich begangenen verbrecherischen Taten zu unterscheiden. Wie aber der erste Eindruck von den Wasserspeiern und Hauptsünden bestätigt, braucht man sich nicht vor ihnen zu fürchten. Wer sich vielmehr angstfrei den dunklen Seiten seines Lebens stellt, kann sie gemeinsam mit anderen und – religiös gesprochen – „mit dem Beistand Gottes“ in Dienst nehmen zum Guten.

Wie Anselm Grün Anselm Grün OSB: Der Umgang mit dem Bösen. Der Dämonenkampf im alten Mönchtum, Münsterschwarzacher Kleinschriften, Band 6. Münsterschwarzach (13. Aufl.) 2005. ausführlich beschreibt, entwickelten Einsiedler und Mönche vom 3. bis zum 6. Jahrhundert Lehren darüber, wie man mit diesen Kräften umgehen kann. Sie suchten also nach Möglichkeiten der Überwindung des Bösen und der dann folgenden Heilung der Seele. Evagrius Ponticus (†399) kannte acht Dämonen, die das Leben der Mönche störten. Er beschrieb dabei drei körperliche Triebe, die zu krankhaften Süchten (1.–3.), drei menschliche Grundgefühle, die durch Verletzung und Verdrängung zu Gefühlsstörungen werden können (4.–6.), und zwei Wirkweisen des fehl geleiteten Selbstwertgefühls, die hier in der Selbstüberschätzung zusammengefasst sind (7.). Ähnlich der mönchischen Seelenlehre kennen die heutige Psychologie und Pädagogik Seelenkräfte, die sowohl positiv genutzt also auch fehl geleitet und im alten Sinn dämonisch werden können. So beschreibt der Freiburger Theaterpädagoge Johannes Galli (*1952) humorvoll sieben wilde Seelenenergien, die – wenn sie nicht kontrolliert werden – einen im Alltag überrumpeln und empfindlich verletzen können. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf die sieben Hauptsünden und zeigt Möglichkeiten auf, diese eigentlich natürlichen Grundkräfte in guter Weise zu entfalten. 

  • Jeder Mensch hat Energie, die in sieben bestimmten Formen gebündelt ist, die man sich vorstellen kann wie sieben Kinder. Sie sind wild und haben geradezu magische Kraft. Wenn ein Mensch nicht mit ihnen umgehen kann, werden sie immer wilder und bleiben in ihrer ungestümen Lebensfreude ungezogen. So ist er gezwungen, sie in einen Keller (des Unterbewussten) zu sperren. Dort vergisst er sie und sie verwahrlosen weiter. Eigentlich verfügen die Kellerkinder jedoch über die ganze menschliche Lebensfreude und Kreativität, die nun auch in den Keller gesperrt ist. Es führt nichts
    daran vorbei, man muss seine Kellerkinder wieder herausholen, sich mit ihnen konfrontieren lassen, ihnen kontrolliert Raum und Wachstum geben, damit man lebensfroh und kreativ bleibt.
    Johannes Galli: Die sieben Kellerkinder. Die Entdeckung der Kraftquelle, 1. Band. Freiburg (2. Auflage) 2003, 11. 

Mit Hilfe der Dämonenlehre von Evagrius Pontikus und der Kellerkinderpädagogik von Johannes Galli lassen sich nun die Hauptsünden am Münsterturm leicht beschrieben.


Gieriges Suchtverhalten

  • 1. Ein abstoßend wirkendes Schwein als Ausdruck von gefräßiger Völlerei und Trunksucht stürzt sich mit lechzendem Maul auf seine Beute. Bei Evagrius verführt dieser Dämon nicht direkt zu übermäßigem Essen und Trinken, er flüstert hingegen Gründe gegen Maß und Verzicht ein. Galli nennt ihn ein vollgestopftes Lästermaul, das teils unbewusst, teils im Sinnenrausch alles in sich hineinstopft, um es später hässlich wiederzugeben.
  • 2. Die blumenbekränzte Skulptur der Frau Geilheit – bei Galli das Flittchen – greift sich triebhaft an Brust und Geschlecht. In der Portalhalle des Münsterturms kann man eine ähnliche Figur sehen, die von ihrem männlichen Pendant begleitet wird, dem ungezügelten Casanova und Lustmolch. Evagrius beschreibt, dass dieser Dämon – unabhängig davon, ob Männer oder Frauen von ihm befallen sind – ohne Rücksicht auf persönliche Lebensentwürfe oder Treueversprechen plötzlich wie aus heiterem Himmel angreift und heftige Leidenschaften erregt. Er ordnet alles und alle seiner körperlichen Lust unter.
  • 3. Herr Geiz hat einen übergroßen Kopf, mit habgierigem Gesichtsausdruck hält er ein Gefäß, das wohl mit seinen Reichtümern gefüllt ist. Auch dieser Dämon verleitet bei Evagrius nicht direkt zum Habenwollen. Er überredet dazu, sein Hab und Gut immer nur ausnahmsweise ein wenig anzuhäufen und dabei nichts oder wenig zu verschenken. So tarnt er sein kindisches Bedürfnis, mehr und mehr zu besitzen. Johannes Galli nennt ihn einfach einen pedantischen Geizhals.

Die drei Dämonen der Gier können Essstörungen, Drogenkonsum, Maßlosigkeit und respektlosem Umgang mit Menschen und Besitz hervorrufen. In den biblischen Schöpfungserzählungen ist der Menschheit eine ertragreiche Erde, ein wohlangelegter Garten anvertraut, dessen wunderbare Früchte sie genießen darf. Der Schöpfer leitet Eva und Adam zu feinfühliger partnerschaftlicher Liebe, Achtung und Freundschaft an. Er möchte seinen geistbegabten Menschen helfen, mit Reichtum und Besitz verantwortungsvoll umzugehen, ihn gerecht aufzuteilen. Wer einen derartigen Umgang mit den Gütern der Welt erlernt hat, kann sich dankbar und frei an dem erfreuen, was das Leben schenkt. Wie die ersten Bücher der Bibel ausführlich beschreiben, gelingt aber den Menschen der maßvolle und friedvolle Genuss irdischer Güter nicht. Dennoch bleibt Gott ihnen nahe, etwa dadurch, dass er sich mit ihnen gemeinsam um allgemein sinnvolle Lebensregeln für sie bemüht.
In der alltäglichen Auseinandersetzung kann man die irren Wünsche und die Einflüsterungen der ersten drei Dämonen mit Vernunftargumenten, eingeübten Techniken der inneren Abwehr und insgesamt gesunden Lebensgewohnheiten bändigen. Ist diese Auseinandersetzung gelungen, kommt gewöhnlich echte Freude am Schönen auf. Fällt die Abwehr der ersten drei Dämonen schwer, kann es sein, dass die Seele zusätzlich von weiteren Dämonen, etwa des Gefühlslebens, belästigt wird.

Unkontrollierbare Gefühle

  •  4. Die Figur des Zorns am Freiburger Münsterturm hat die Gestalt eines wütend seine Haare raufenden Löwenmenschen mit cholerisch aufgerissenem Maul. Evagrius weiß, dass Menschen im Zorn ganz ihrem Affekt ausgeliefert sein können. Verfestigt sich der Zorn zu einer dämonischen Macht, kann die kleinste Aufregung zum Ausbruch von Wut und Gewalt führen. Ein zorniger Mensch ist ähnlich aufbrausend und gehetzt wie Gallis Fetzer, dem es nicht gelingt, seine eigentlich positive Tatkraft und sein engagiertes Talent unter Kontrolle zu halten, im guten Sinn zu beherrschen.
  • 5. - 6. Die Figuren der Trägheit und des Neides sind am Münsterturm verloren und durch zwei andere Figuren ersetzt: Man sieht an ihrer Stelle eine männliche Gestalt mit Mantel und Gefäß aus dem 16. Jahrhundert sowie das Portrait des Münsterbaumeisters Friedrich Kempf von 1921.
    Gleich zwei Dämonen der Traurigkeit und der Trägheit stehen bei Evagrius für Enttäuschung, Überdruss und Beklemmung. Eine von der Trägheit geplagte Seele fühlt sich antriebslos und ausgebrannt, ist resigniert und will manchmal sogar sterben. Gallis entsprechende Tranfunzel ertränkt ihre ungelösten Probleme in einem Meer aus Gleichgültigkeit. Sie besitzt eigentlich eine in sich ruhende kreative Kraft, hat aber aufgehört, diese fruchtbar zu machen. Wenn sich Trauer, Trägheit und Wut zu einem tiefen Groll gegen die anderen, denen es vermeintlich immer besser geht als einem selbst, verfestigen, spricht man vom Dämon des Neides. Evagrius beschreibt den Neid nicht. Bei Galli heißt der in Minderwertigkeitskomplexen verhaftete Dämon Binnix („Ich bin nichts wert“). Er steht für unterdrückte Lebensfreude.

Zu einem natürlichen Gefühlsleben gehören hin und wieder Wut, Trauer und Erschöpfung. Beständige Aggressionen oder Depressionen jedoch deuten darauf hin, dass vergangene, meist verdrängte Gefühle ihr Unwesen in der Seele treiben. Dann muss die Seele ihre nicht kontrollierte Zerstörungskraft fürchten. Dämonen wie der Zorn oder die Trägheit hungern danach, von einem liebevollen Gegenüber wahrgenommen, gebändigt und versorgt zu werden. Zahlreiche Geschichten, Gedichte und Lieder im Alten Testament zeigen auf, wie beispielsweise König David, die Propheten Elija, Jesaja und Jeremia mit ihrer Trauer und Wut, ihrer Verzweiflung und Resignation, ihrem Neid und ihren Verletzungen bewusst und lösungsorientiert umgegangen sind.Wem es dann geschenkt ist, Bedürfnisse und Gefühlsregungen in sich geheilt zu sehen, spürt innere Stärke und Zufriedenheit. Wenn diese Stärke und Zufriedenheit jedoch mit selbstgefälliger Überlegenheit verbunden ist, und wenn man glaubt, nur aus eigener Kraft die Dämonen kontrollieren zu können, dann hat sich der Dämon der Selbstüberschätzung in die Seele eingenistet.

Selbstüberschätzung

 Die hier folgenden – heutigen – Erklärungen zu Hochmut verdanken sich der Beschäftigung mit der Psychotherapie nach Albert Pesso.

  • 7. Evagrius umschreibt die Hauptsünde des Hochmuts mit zwei Dämonen: Ruhmsucht und Stolz.
    Die Ruhmsucht blickt von oben herab auf alle anderen, die aus ihrer Sicht in Schlechtigkeit
    verhaftet sind. Der Stolz geht noch weiter, er stellt sich nicht nur über Menschen, sondern auch über jede übermenschliche Macht. Er schafft sich seine eigene Idee von Gerechtigkeit und lässt darüber keine höhere Vernunft und keinen größeren Gott gelten. Ein geheilter Großkotz kann jedoch Weisheit und Herzensbildung entfalten – so Galli.
    Der Hochmut am Freiburger Münster hat die Gestalt eines Ritters, der zunächst für ritterliche
    Tugenden wie Tapferkeit und Gerechtigkeit steht. Dieser Ritter hat sicher hohe moralische Werte und strebt eine bessere Welt an. Er kann sich dabei aber auch überschätzen und überfordern. Er versteckt seine Gefühle und Schwächen in einem Panzer der Unantastbarkeit und geht als einsamer Held seine Wege – kalt lächelnd über die Probleme anderer. Er bedient sich oft eines äußerlich „erfolgreichen“ oder „gottgefälligen“ Lebenswandels und schleicht sich so in Politik, Gesellschaft und Religion ein. Derart hochmütige Menschen glauben alles im Leben ritterlich alleine beurteilen und meistern zu können – oder zu müssen. Ihre Allmachtsphantasien können wahrhaft dämonisch werden, Schrecken und Terror verbreiten. Es kann sogar so weit kommen, dass sie sich wie der Brudermörder Kain das Recht nehmen, ihre Geschwister zu ermorden. Sie vergessen, dass sie ihr Dasein und ihre Kraft, ihren Wert und ihre Würde nicht selbst geschaffen haben und auch nicht selbst erhalten können. Wie Adam und Eva greifen sie danach, wie Götter auf der Erde zu leben, und verlieren dabei das Paradies.
    Dabei sind sie so bedürftig, gerade wenn sie glauben, sich für eine gute Sache oder Idee einzusetzen. Sie wollen mehr leisten als sie können und wähnen sich stets für alles verantwortlich. Sie sollten von allen Aufgaben freigesprochen werden, die eigentlich nicht ihnen zukommen, sondern anderen oder sogar Gott selbst, der allein das Leben im Ganzen tragen und lenken kann.
    Um die Welt zu retten, hat sich nach christlicher Überzeugung Gott klein gemacht, ist Mensch geworden und hat das Leben bestritten und erlitten wie wir. Er hat die Verantwortung getragen, die für einzelne Menschen zu groß ist.

 

Dämonen überwinden

 Wer dämonisch gewordene Kräfte in seiner Seele nur leugnet, verdrängt oder verharmlost, kann sie nicht bändigen. Es mag manchen Menschen so erscheinen, als wären sie ohnmächtig dem dämonischen Treiben in der Seele ausgeliefert und hätten keine Möglichkeit, diese zu überwinden, keinen freien Willen mehr. Für die alten Mönche war das Böse tatsächlich nie ein wirklich frei gewähltes und gewolltes Ziel, sondern immer zwanghaft, angsterfüllt und gequält. Dennoch glaubt Evagrius,
dass das Böse überwindbar ist, dass immer eine echte Möglichkeit zum Guten besteht. Auch die größte Ohnmacht gegenüber den Seelenkräften hat immer noch die Freiheit, sich Hilfe zu suchen, sich neu auszurichten auf das hin, was letztlich für einen selbst und für andere gut sein kann.
Bei den Beschreibungen der Dämonen sind in diesem Beitrag immer wieder die positiven Chancen ihres Daseins benannt. So gilt es, sich den Dämonen zu stellen und sich helfen zu lassen, ihre Grundkräfte als Energiequellen zu nutzen. Ein erster Schritt zur Heilung ist das Beobachten und Benennen der von den Dämonen ausgelösten Gefühle und Gedanken, also ihre Wirkweise. Wohl auch aus diesem Grund gaben Evagrius und Galli den Dämonen so konkrete und treffende Namen.
Entsprechend verliehen die Steinmetze den Skulpturen am Münster ihr detailgenaues Aussehen.
Namensgebung und Darstellung erklären also sorgsam, von welcher Art die Dämonen sind.
Evagrius empfiehlt in einem zweiten Schritt des Widerstands gegen das Böse die Lektüre von heilsamen biblischen Geschichten. Auch rät er dazu, die Dämonen durch Liebesdienste an Menschen in Leid und Not, vor allem aber durch das Gebet und das seelsorgliche Gespräch zu vertreiben. Johannes Galli lehrt, dass man in Theaterrollen, also spielerisch, dämonische Kräfte
kennen, kontrollieren und dann auch im Alltag beherrschen lernen kann.
Es kann jedoch sein, dass sich gewisse Dämonen mit diesen Mitteln nicht bändigen lassen. Dann braucht die menschliche Seele Hilfe von außen und einen längeren Weg der Heilung. Sind am Münster derartige Wege für die Heilung der Seele aufgezeigt?

Die Wasserspeier und die Hauptsünden dürfen ihre eigentlich gefährliche Bosheit am Freiburger Münster nur eingeschränkt austoben: Statt zu zerstören dürfen, müssen sie niedere Dienste am Entwässerungssystem des Kirchenbaus tun. Als Bestandteil der Natur bzw. der im religiösen Sinn von Gott erschaffenen Welt haben sie Existenzrecht. Damit aber ihre tierischen und rohen Impulse nicht in den Himmel wachsen, werden sie begrenzt, von direkt über ihnen stehenden positiven Figuren in waagrechter Stellung gehalten. Sie erfahren somit von außen menschliche Zuwendung, die ihnen klare Orientierung gibt und verbietet, ihre Kräfte zum Negativen zu nutzen. Ihre verwegene Energie ist dem Guten unterworfen und zum Guten hin gelenkt. So sitzen sie wie gezähmte Wachhunde an ihrem Platz. Im Gegensatz zu echten wilden Tieren und Dämonen möchte
man den hässlichen Geschöpfen vielleicht sogar nahe kommen, um zu sehen, ob ihr gekränkter und irrer Charakter wirklich gebändigt ist.
Der wichtigste, in der Bibel und der jüdisch-christlichen Tradition immer wiederkehrende Name Gottes lautet: „Ich bin für Euch da“. Dieser Name ist auch Programm für das Freiburger Münster, seinen Turm und die dort gezeigten Figuren: Gott schenkt nicht nur Nähe in Freude und Glück, er hilft nicht nur in Not und Leid. Sein Name umfängt auch dämonische Seelenkräfte. Er hält sie aus und setzt ihnen in der Welt Grenzen, wo es nötig ist. Wenn Menschen daraus gelernt haben, die
eigenen Grenzen einzuhalten, können sie wiederum anderen helfen, ihre Grenzen wahrzunehmen und anzunehmen.
Die Namen dieser inneren Kräfte sind dann nicht mehr dämonisch, sondern tugendhaft: Genuss und Lebensfreude (statt Völlerei), Liebe und Verbundenheit (statt Wollust), Dankbarkeit und Großzügigkeit (statt Geiz), Tapferkeit und Tatkraft (statt Zorn), Seelentiefe und Kreativität (statt Trauer, Trägheit), Hochherzigkeit und Solidarität (statt Neid), Achtung vor der geschenkten Würde meiner selbst und aller Menschen (statt Ruhmsucht), Herzensgröße und Weisheit (statt Stolz).
Vgl. Markus Aronica: Königlich, in: Du atmest uns offen – Begeistert, bestärkt, bewegt, hg. v. Susanne Ruschmann, Ostfildern 2006, 55–59

Entsprechend stehen am Münster Heilige, hoch gewachsene Propheten und würdevolle Posaunenengel aufrecht vor Gott. Denn sie sind aus freiem Entschluss dazu bereit, sich begrenzen und beschenken zu lassen, ihre Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken, ihren Charakter und ihre oft verschlungenen Lebenswege segensreich verwandeln zu lassen.


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